Außerbiblische Tradition

Der Apostel Thomas in der außerbiblischen Tradition

Die außerbiblischen Schriften, die vom Apostel Thomas handeln oder ihn als Verfasser zugeschrieben werden, sind im Vergleich sehr viel umfangreicher. Jedoch ist ihr historischer Wert überwiegend sehr skeptisch zu beurteilen.

Zunächst eine wichtige Vorbemerkung! Wir Heutigen kennen das Neue Testament als eine feste abgeschlossene Literaturgröße, als ein Buch im gegebenen Umfang, und können uns nur schwer vorstellen, dass dieser Umfang erst Ergebnis eines langen Sammlungs- und Entstehungsprozesses ist, der erst in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts seinen Abschluss gefunden hat. Bis dahin galt es als sehr umstritten, welche Schriften wichtig waren und allgemeine kirchliche Geltung haben sollten. Als dann durch den sogenannten 39. Osterfestbrief des Bischofs Athanasius von Alexandrien im Jahre 376 die „heutigen“ 27 Schriften des NT zur allgemeinen kirchlichen („kanonischen“) Gültigkeit erhoben wurden, geschah dies zwangsläufig in Abgrenzung zu einer Vielzahl anderer im Umlauf und Gebrauch befindlicher Schriften.

Vielen weiteren Aposteln wurden damals Evangelien als Verfasser zugeschrieben. So gab es weitere Evangelien unter dem Verfassernamen z.B. des Petrus, des Philippus, des Judas und eben auch des Thomas. Es gab aber auch Evangelien, die der Gesamtheit der Apostel zugeschrieben wurden. Sodann gab es Evangelien, die direkt oder indirekt sogar unter dem Namen Jesu liefen, deren historischer Wert aber gleich null ist. Historisch interessant zumindest ist die Gruppe der sog. judenchristlichen Evangelien. Hier sind z.B. das Hebräer- und Nazaräer-Evangelium zu nennen. Schließlich gab es auch noch spezielle Kindheitsevangelien, die vom Erzählstoff her in die bekannte biblische Zeitlücke zwischen der Geburt Jesu und dem 12-jährigen Jesus im Tempel stießen, die aber als gänzlich legendarisch angesehen werden müssen und letztlich Ergebnis der Fabulierfreudigkeit des Orients sind. In Parallele zu den weiteren biblischen Literaturgattungen der „Apostelgeschichte“ und der „Apokalypse“ gab es dann aber auch entsprechende Schriften. Hier begegnen wir z.B. den angeblichen Verfassernamen des Paulus, des Andreas, des Johannes und eben auch wieder des Thomas. Die Schriften dieser gesamten außerbiblischen Literatur werden in der Forschung unter dem Namen der „Apokryphen“ zusammengefasst. Apokryph heißt „verborgen“ im Sinne von „zur öffentlichen Verbreitung nicht zugelassen“. Außerdem galten die in diesen Schriften verbreiteten Lehren dann bald als „ketzerisch“.

Im Rahmen dieser Literatur sind nun folgende Schriften mit dem Namen des Apostels Thomas verbunden:

  1. Das Kindheitsevangelium des Thomas
  2. Das Thomasevangelium
  3. Das Buch des „Athleten“ Thomas
  4. Die Thomasakten (= die Apostelgeschichte des Thomas)
  5. Die Thomasapokalypse

Diese Thomasschriften sind geistlich beheimatet in der frühen syrischen Kirche, deren Gebiet sich in den ersten Jahrhunderten im Südosten der Türkei, vor allem dann in Mesopotamien (heutiger Irak), aber auch in Persien (heutiger Iran) befand. Diese Sonderform des Christentums war in ihrer Frömmigkeit sehr stark durch Weltverneinung und Jenseitsorientierung, durch praktizierte Askese und Neigung zum eremitischen Mönchtum geprägt. Und das spiegelt sich in diesen Schriften wieder. Ein typischer Ausspruch aus dem Umkreis dieser Frömmigkeit lautet: Betrachtet euch im Hinblick auf die Welt als Reisende und Gäste, die nur eine Nacht bleiben und bald zu ihren Häusern zurückkehren! (Addailegende aus Edessa). In eine ähnliche Richtung zielt dieses kurze, prägnante Wort aus dem Thomasevangelium: Werdet Vorübergehende! (Logion 42). Vieles von dem, was damals in den Gemeinden, die noch sehr locker organisiert waren und wenig Verbindung miteinander hatten, gesagt und geschrieben wurde, wird nach heutigen Wertungen als Irrlehre angesehen, galt damals aber zur Zeit der Entstehung als orthodox, da die Grenze zwischen dem sog. „rechten“ und dem sog. „verkehrten“ Glauben noch gar nicht fixiert war.